Was ist aus der Linken geworden?

Joachim Hirsch

Das Verhalten der Linken (ich lasse es erst mal bei dieser allgemeinen Bezeichnung eines recht unübersichtlichen politischen Feldes und beziehe mich im Wesentlichen auf das gesamte Spektrum) hat zu Konflikten und Auseinandersetzungen geführt, die denen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg ähneln. Der Riss ging oft durch die einschlägigen Gruppierungen und Organisationen hindurch. Auch das links-netz blieb davon nicht unberührt. Ein Ergebnis ist, dass linke Positionen in der öffentlichen Diskussion noch marginalisierter sind als bislang schon. Man könnte die Angelegenheit damit eigentlich auch ad acta legen. Dennoch bleibt die Frage interessant, wie es dazu kommen konnte und was das für die weitere politische Entwicklung bedeutet.

Das Verhalten der verschiedenen linken Organisationen, Gruppierungen und Individuen in der Corona-Krise und ihr Verhältnis zur Politik der Regierungen hat einiges mit dem linken Staatsverständnis und damit mit den Grenzen der Fähigkeit zu einer radikalen Gesellschaftskritik zu tun. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass parteiförmige Orientierungen in den letzten Jahren die Oberhand gewonnen haben und außerparlamentarische Praxis kaum mehr eine Rolle spielt. Dafür sind heute eher die Fridays for Future zuständig.

Erinnern wir uns: Die materialistische Staatskritik hat nachgewiesen, dass der bestehende Staat ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses darstellt und strukturell – als Steuerstaat unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln – darauf angelegt ist, dessen Bestand zu gewährleisten. Das markiert die Grenzen einer auf den Staatsapparat bezogenen, auch reformistischen Politik und verweist auf eine grundsätzliche Beschränkung demokratischer Verhältnisse. Gleichzeitig ist aber der Staat nicht „Staat des Kapitals“ in dem Sinne, dass er unmittelbar als Erfüllungsgehilfe der konkret existierenden Kapitalformation fungiert, sondern eine „relative Autonomie“ aufweist, wie Nicos Poulantzas dies bezeichnet hat. Diese ist eine Voraussetzung dafür, dass er gegebenenfalls auch im Konflikt mit einzelnen Kapitalen oder Kapitalgruppen in der Lage ist, die Reproduktion der Gesamtformation zu gewährleisten. Er erscheint daher als eine neutrale, für unterschiedliche gesellschaftliche Einflüssen offene Instanz. Dies ist die Grundlage dessen, was ehemals in der linken Staatskritik als „Staatsillusion“ bezeichnet wurde.

Im Zusammenhang der Corona-Krise hat dieser recht komplexe Zusammenhang zu einigen Verwirrungen geführt. Tatsächlich erschien in diesem Fall die staatliche Politik nicht vorrangig einem bestimmten Kapitalinteresse zu folgen – wenn man davon absieht, dass es natürlich darauf ankommt, für die Gesundheit der Arbeitskräfte zu sorgen. Marx hat diesen Zusammenhang bereits am Zustandekommen der englischen Fabrikgesetzgebung im 19.Jahrhundert nachgezeichnet. Die Regierungen konnten freiheitsbeschränkende Maßnahmen durchsetzen, die auch relevante Kapitalgruppen betrafen, allerdings abgesehen davon, dass die Unternehmen im Gegensatz zur breiten Bevölkerung von Restriktionen eher verschont blieben und – soweit sie „systemrelevant“ genug waren – im Unterschied zu vielen anderen Betroffenen, z.B. im Kunst- und Kulturbereich, auf massive Hilfen zählen konnten.

Was die staatliche Politik in der Corona-Krise erklärt, hängt mit dieser relativen Autonomie, der „Besonderung“ der staatlichen Apparatur im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kräften zusammen. Sie führt dazu, dass in liberaldemokratisch verfassten Gesellschaften Parteipolitiker*innen, weil auf Wahlerfolge angewiesen, eben auch ein „Interesse an sich selbst“ entwickeln, wie Claus Offe dies bezeichnet hat, d.h. ein Interesse am Erhalt oder dem Erwerb von Positionen im Staatsapparat. Sie müssen sich deshalb als kompetent und damit wählbar darstellen und damit entwickelt sich eine eigene Dynamik.

Nachdem Schreckensbilder über Corona-Opfer, etwa aus Italien, über die Bildschirme gingen, musste die Politik vor allem Handlungsfähigkeit beweisen. Und das in einer Situation, in der über das Virus, seine Eigenschaften und Verbreitungswege noch kaum zuverlässige Informationen vorlagen – was im Übrigen bis heute noch nicht vollständig der Fall ist. Handlungsfähigkeit hieß, den Leuten massive Beschränkungen aufzuerlegen: die diversen Lockdowns also. Und dies, ohne genaue Kenntnisse über die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen zu besitzen! Dazu fehlt es bis heute an zuverlässigen Untersuchungen. Da man sich vor allem von Virologen und Medizinern beraten ließ, die damit sozusagen die politischen Vorgaben machten, glaubte man sich um die psychischen und sozialen Folgen, also die Kollateralschäden der Corona-Politik nicht kümmern zu müssen. Um für dieses Vorgehen Akzeptanz zu erzeugen, wurden – sekundiert von „Experten“ verschiedenster Art und von vielen Medien – erstaunliche Bedrohungsszenarien entwickelt. So konnte der Eindruck entstehen, das Leben aller sei in höchster Gefahr. Das einschlägig bekannte Papier aus dem Innenministerium, das genau diese Strategie entwickelt, belegt das sehr schön. Man könnte das auch als Panikmache bezeichnen. Dass es allerdings nicht vorrangig um den Schutz des Lebens ging, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sich um tatsächlich besonders gefährdete Gruppen, etwa die Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen zunächst kaum gekümmert wurde. Diese sind ja auch nicht so wahlrelevant. Auf jeden Fall wurde damit ein Zirkel in Gang gesetzt, der die Politik unter einen ständigen Handlungszwang setzte: Bedrohungsszenarien, die immer neue Maßnahmen zur Folge hatten, zu deren Rechtfertigung neue Bedrohungsbilder ausgemalt wurden.

Aufgabe einer linken Kritik wäre gewesen, diese Zusammenhänge mit den dahinterstehenden Mechanismen deutlich u machen und die Sinnhaftigkeit der getroffenen Maßnahmen und deren Auswirkungen zu hinterfragen. Das theoretische Rüstzeug dazu war eigentlich vorhanden, aber offensichtlich in Vergessenheit geraten. Aufgabe wäre es auch gewesen, die im Zusammenhang der Corona-Politik durchgesetzten Verfassungs- und Rechtsbrüche anzuprangern. Das blieb jedoch Sache einiger liberaler Journalisten und Juristen. Und es wäre darauf angekommen, auf die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Corona-Politik, etwa die massiven Veränderungen im Bildungssystem, die weitere Perfektionierung des Überwachungsstaats oder die Verschärfung der sozialen Ungleichheit hinzuweisen. Davon wurde von linker Seite eher geschwiegen, wenn nicht die staatlichen Maßnahmen kritiklos akzeptiert oder gar als ungenügend bezeichnet wurden. Siehe z.B. die „Cero-Covid“- Initiative, die sich selbst als links bezeichnete, eine breite Unterstützung und eine gewisse Öffentlichkeit erlangte, dabei aber sowohl politik- wie auch ökonomietheoretisch von einer erstaunlichen Naivität gekennzeichnet war.

Will man also nach den Ursachen für das linke Debakel suchen, so muss man auf die theoretische und politische Entwicklung dieser Szene seit den siebziger Jahren zurückgehen. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass sich auch hier die Panikmache in der Weise ausgewirkt hat, dass man sich sozusagen in einer Hobbesschen Situation zu befinden glaubte: Wenn das Leben aller bedroht ist, müssen alle Rechte an den „Leviathan“, den Staat abgetreten werden, der als einziger in der Lage ist, dieses zu schützen. Bei Hobbes war es der englische Bürgerkrieg, jetzt war es ein Virus. Mutmaßlich hat auch eine Rolle gespielt, dass in der breiten Öffentlichkeit jede Kritik an den staatlichen Maßnahmen als Querdenkertum und damit als demokratie- und verfassungsfeindlich erklärt wurde. Dass es dabei nicht zu einer noch autoritäreren Entwicklung gekommen ist, hängt damit zusammen, dass einige rechtsstaatliche Einrichtungen wie die Gerichte noch halbwegs funktionierten und auch noch Ansätze einer zivilgesellschaftlichen Kritik existierten, bei denen die Linke allerdings überhaupt keine Rolle mehr spielte.

Für diese politische Zukunft dieses Landes ist das bedeutungsvoll. Immerhin waren es seit der Studierendenbewegung linke Initiativen und die darauf folgenden Entwicklungen, etwa die Entstehung der so genannten neuen sozialen Bewegungen, die allmählich demokratischere und liberalere Verhältnisse durchzusetzen vermochten. Es ist zu befürchten, dass dies wir in Zukunft kaum mehr der Fall sein wird. Die autoritäre Entwicklung, die durch die Corona-Krise und die darauf bezogene staatliche Politik erheblich verstärkt wurde, kann sich dadurch noch ungehemmter fortsetzen. Unter anderem hat auch das Debakel der Linkspartei bei den letzten Bundestagswahlen damit zu tun.